Der Mensch Bert Hellinger.

Für Interessierte die, die Person Bert Hellinger ein bisschen näher kennenlernen möchten, führten Heinrich Breuer, Theo Roos und Wilfried Nelles ein Interview, indem er – ein Stück – seinen Lebensweg erzählt.

Gibt es für Dich …

einen Ort, den Du mit dem Begriff Heimat verbindest?

Besonders wichtig ist für mich der Ort, aus dem ich stamme, Leimen bei Heidelberg. Meine Großeltern haben dort gewohnt, meine beiden Eltern stammen aus dem Ort. Aber unsere Familie ist schon früh von dort weggezogen nach Köln. Leimen ist für mich ein Platz, der vom Gefühl her, Heimat ist. Wann immer ich dort vorbeifahre, erlebe ich das.

Der Vater meiner Mutter hat in der Zementfabrik von Leimen gearbeitet. Das war schwere körperliche Arbeit. Die Arbeiter lebten in Siedlungen, die der Fabrik gehörten. Und jede Familie hat von der Fabrik ein Stück Land bekommen. Das war die Zeit des Überganges vom Bäuerlichen in das Industrielle, die Arbeiter haben alle noch ihre Felder bearbeitet. Mein Großvater auch. Er hat ein Schwein gehabt und Hühner und Felder. Die Frauen und Männer haben von morgens bis abends gearbeitet. Als ich auf die Welt kam, da war der Großvater schon nicht mehr in der Fabrik. Ich habe ihn und die Menschen und das Leben in der Siedlung miterlebt. Es war so etwas Herzliches da, und etwas Gerades. Das hat mich mein Leben lang beeinflusst. Ich habe ein Herz für dieses einfache Leben, für das Schlichte.

Bevor ich in die Schule kam, habe ich eine längere Zeit bei meinen Großeltern verbracht. In dieser Zeit bin ich in dieses Milieu hinein gewachsen und habe das Leben der einfachen Menschen mitbekommen. Die Familien hatten viele Kinder, und die Kinder waren natürlich viel zusammen. Wir konnten in die verschiedenen Familien ganz selbstverständlich hinein, so als ob wir dazugehörten. Im Grunde war das wie eine Großfamilie.

Warum haben deine Eltern …

Dich für eine Zeit bei den Großeltern gelassen?

Die Großeltern wollten mich für eine Zeit bei sich haben. Vielleicht sollte ich ihnen den Abschied von der Familie versüßen, die ja schon, als ich noch kleiner war, nach Köln gezogen war. Aber ich bin sehr gern bei ihnen gewesen. Ich kam nach Köln zurück, als die Schulzeit begann. Die ersten vier Jahre der Volksschule war ich in Köln. Die Gymnasialzeit begann in einem Internat in Lohr am Main, ein katholisches Internat von den Mariannhiller Missionaren, den Missionaren, zu denen ich später gegangen bin.

Die Schul- und Internatszeit von Bert (Anton) Hellinger

War dieses Internat …

schon so etwas wie eine Vorbereitung auf den Priesterberuf?

Das war so gedacht. Wir haben im Internat gewohnt und sind in das staatliche Gymnasium gegangen, der Orden unterhielt keine eigene Schule. Ich habe mich im Internat sehr wohl gefühlt. Das war eine schöne Zeit für mich, eine sehr schöne Zeit.

Die Zeit im Internat fiel in die Nazizeit. Ich bin 1936 in das Internat gekommen. Bei einer großen Wahl, die damals im Anschluss von Österreich an Deutschland stattfand, hatten einige von den Nonnen, die uns betreut haben, mit „nein“ gewählt. Und weil es damals offensichtlich keine geheimen Wahlen gab, wurde das bekannt. In der Nacht ist dann die SA vor dem Internat aufgezogen. Sie haben die Scheiben eingeworfen und an die Wände geschrieben: „Hier wohnen Verräter.“ Später wurde das Internat geschlossen. Der Krieg hatte da schon angefangen und aus dem Internat wurde ein Lazarett gemacht.  Ich bin dann wieder zu meiner Familie gekommen, die inzwischen in Kassel wohnte, wo mein Vater eine neue Anstellung bekommen hatte. Dort bin ich weiterhin ins Gymnasium gegangen, noch zwei Jahre. 
 

Hast Du dann …

da das Abitur gemacht?

Bei uns gab es kein Abitur, wir sind vor dem Abitur eingezogen worden. Nach der siebten Klasse – ich war da 17 Jahre alt, kam ich drei Monate in den Arbeitsdienst und danach zur Wehrmacht, als Funker bei der Infanterie. Unsere Einheit ist an die Westfront nach Frankreich verlegt worden. Dort habe ich die Invasion miterlebt und den Rückzug. Bei Aachen bin ich in amerikanische Gefangenschaft geraten.

Wenn Du so zurückdenkst …

an die Zeit, in der viele junge Menschen die Ideologie der Nazis unterstützt haben und sich damit identifizieren konnten. Wie war das für Dich?

Im Internat waren wir in einem völlig anderen Feld als die anderen Jugendlichen. Wir sind nicht zum Jungvolk oder zur Hitlerjugend gegangen und hatten deshalb mit ihnen wenig Berührungspunkte. Später, in Kassel, habe ich mich einer kleinen katholischen Jugendgruppe angeschlossen, die natürlich verboten war. Aber wir haben uns regelmäßig heimlich getroffen.

Mitglieder der HJ kamen oft bei uns vorbei und wollten mich zum HJ-Dienst abholen. Meine Mutter sagte dann „Er ist gerade nicht da.“. Das konnte man aber nur eine Zeit so machen, dann ging das nicht mehr, das hätte die Familie zu sehr bedroht. Deshalb habe ich dann auf Wunsch meiner Eltern alle vierzehn Tage in einem HJ-Orchester Violine gespielt.

War die Familie …

auch ein sicheres Feld, wenn Du so zurückschaust?

Die Familie war ein sicheres Feld, vor allem meine Mutter. Meine Mutter war so in ihrem Glauben gefestigt, dass ihr die Ideologie Nationalsozialismus nichts anhaben konnte.

Musste Dein Vater …

damals nicht in der Partei sein?

Auf ihn wurde viel Druck ausgeübt, in die Partei einzutreten, aber er hat das nicht gemacht. Er hat sich strikt heraus gehalten. Das war damals ein besonderes Zeichen von Mut.

Dann war der …

Zusammenbruch auch für keinen von der Familie eine persönliche Katastrophe, wie es ja für viele Familien war?

Schwer war natürlich der Kriegstod meines älteren Bruders, der in Russland geblieben ist. Mein Bruder galt lange Zeit als vermisst. Über seinen Tod habe ich erst vor wenigen Jahren in Leimen etwas erfahren. Die Frau meines Cousins Albert sagte mir damals: „Der Albert hat heute auf dem Friedhof jemanden getroffen, der erzählt hat, dass er mit einem namens Hellinger aus Leimen zusammen im Gefangenenlager war. Das war mein Bruder. Ich habe den Mann besucht, und er hat mir das bestätigt Er war dabei, als mein Bruder starb. Sie waren in einem riesigen Gefangenenlager, aus dem nur etwa zwanzig überlebt haben, darunter auch er. Die anderen sind fast alle an der Ruhr gestorben. So haben wir vom Tod meines Bruders gehört.

Der Zusammenbruch des Dritten Reiches war für uns keine Katastrophe. Im Gegenteil. Wenn Deutschland gesiegt hätte, wäre mein Schicksal besiegelt gewesen. Natürlich war unsere Familie durch den Tod meines Bruders tief betroffen. Auch das Haus, in dem wir in Kassel gewohnt haben, war vom Krieg ziemlich mitgenommen. Aber der Verlust von Angehörigen und Hab und Gut war damals normal, das erlebten die meisten Familien in dieser Zeit. 

Als einer, der …

kurz nach dem Krieg geboren wurde und in der Nachkriegszeit aufwuchs, erinnere ich mich gut an diese Männer mit den leeren Ärmeln und an die Humpelnden mit den Beinprothesen. Die Nachwirkungen des Krieges zeigten sich für mich in diesen Menschen. 

Die Kriegszeit war für alle eine große Zeit des Sterbens. Das war ganz selbstverständlich, da war wieder einer gefallen, da wieder einer. Von meiner Klasse ist – glaube ich – die Hälfte umgekommen. Im Krieg war das selbstverständlich. Da ist man nicht traurig herumgelaufen, das gehörte dazu. Es war Krieg, und da starben die Menschen. Von außen kann man sich heute nicht mehr vorstellen, wie das war.

Ich merke, wie fremd …

mir das ist. Der Tod ist dann anscheinend ein Alltagsgeschäft.

Ganz genau, ganz genau.

Dann die Bombenangriffe …

und die zivilen Toten.

Es gehörte damals wie selbstverständlich zum Leben dazu.
 

Ist es die Wirkung

der Erfahrungen aus dieser Zeit, dass Du mit Krieg und dem Tod arbeitest, und dass Du auch wegen dieser Zeit damit so furchtlos umgehen kannst?

Das hat etwas damit zu tun. Horst Eberhard Richter hat bei den Psychotherapiewochen in Lindau einmal einen Vortrag gehalten, in dem er in etwa sagte: „Manchmal erwarten wir – er sprach von seiner Generation – dass die Jugend so wie wir sein müsste. Aber das geht doch gar nicht. Bis zu unserem zwanzigsten Lebensjahr haben wir erfahren, dass die Hälfte unserer Kameraden tot ist. Was andere erst mit sechzig, siebzig Jahren erleben, dass die Altersgenossen wegsterben, das haben wir schon mit zwanzig erlebt.“ Natürlich sind wir dadurch geprägt. Das zählt mit zum gelebten Leben. 

Gibt es, wenn Du …

auf die Zeit als Soldat zurückschaust, besonders einschneidende Erfahrungen? Mit Menschen, die neben Dir gestorben sind, Kameraden, die du selbst verloren hast? Es ist ja immer wieder beeindruckend, wie du von der Gemeinschaft der Soldaten sprechen kannst. Ich vermute, dass dem eigene Erfahrungen zugrunde liegen. 

Man war aufeinander angewiesen, und man hat sich gegenseitig gebraucht und geachtet. Und natürlich auch geliebt. Einer stand für den anderen ein. Es gab große Kameradschaftserlebnisse, und vor allem, es gab keine Standesunterschiede. Alle waren gleich. Ich weiß noch, ich war in einer Kompanie, in der nur zwei Gymnasiasten waren. Ich kannte das gar nicht, dass es Gruppen gibt, in denen es nicht viele Gymnasiasten gibt, das hatte ich noch nicht erlebt. Es gab da eine solche Fülle von unterschiedlichen Erfahrungen und Vorerfahrungen aus dem Leben vor dem Krieg. Für mich war es ein großes Erlebnis mitzubekommen, wie jeder von den Menschen anders war. 

Natürlich ist der Krieg selbst eine Erfahrung für sich. Man war Soldat in einer Kompanie, die damals nicht mehr so groß war. Sie bestand aus etwas sechzig bis siebzig Soldaten. Nach acht Tagen im Einsatz waren von denen vielleicht noch zwanzig übrig. Die übrigen waren verwundet oder gefallen oder in Gefangenschaft geraten. Dann wurde eine neue Kompanie zusammengestellt, die wieder in den Einsatz geschickt wurde, und nach acht Tagen sind wieder nur noch zwanzig übrig geblieben. Das sind tief greifende Erfahrungen.

Wie bewältigt man

so etwas, welche Form von Trauer erfordert das?

Überhaupt keine Trauer. Es war eine Zeit des Sterbens. Der Tod war allgegenwärtig, und es macht keine Furcht mehr, dass er so präsent ist. Alles ist auf den Augenblick konzentriert, man macht sich keine Illusionen, ob man herauskommt, ob man überhaupt herauskommt, man ist dem ausgeliefert. Und wenn es gut gegangen ist, atmet man auf. Das ist alles. Es war ja nicht nur an der Front so, das Sterben war ja in der Heimat genauso gegenwärtig. 
 

Spielt das noch

mit hinein, wenn Du heute auf den Tod schaust und die Bedeutung des Todes als etwas Schlimmes und Schreckliches in Frage stellst?

Ja, das spielt mit hinein, denn das ist mir vertraut, ist noch ganz nah. 

Hat das etwas

mit einer Haltung zu tun, die dem eigenen Tod zustimmt?

Im Krieg war das ganz klar. Der Tod war einfach neben dir. Er war die ganze Zeit neben dir, denn du konntest ja jederzeit in einen Schuss geraten, und dann wärest du tot gewesen. Das war normales Leben. 

Hat der Tod

das Leben intensiver gemacht?

Ja, schon. Ich war damals achtzehn, neunzehn Jahre alt! Mein Gott!

Und nach dem Krieg, …

wie ging es dann weiter? 

Ich war ja erst noch in Gefangenschaft, in Charleroi in Belgien, ein Jahr lang. Ich bin aus dem Gefangenenlager geflohen. Diese Flucht, dieses Abhauen, hat mir anderthalb Jahre unabhängige Lebenszeit gebracht. Nach der Flucht bin ich gleich zu den Mariannhillern gegangen. Wenige Wochen, nachdem ich nach Hause kam, bin ich in den Orden eingetreten und habe mein Studium begonnen. Ich habe in Würzburg Philosophie und Theologie studiert. 

Nach dem Studium

hast Du wahrscheinlich Deine Priesterweihe bekommen, etwa Mitte der Fünfziger Jahre?

1952 – glaube ich. Ich weiß das gar nicht mehr genau, es ist schon so lange her. 
 

Hast Du mal gezweifelt, …

ob Du den Priesterweg gehen solltest?

Nein, habe ich nicht, ich habe nie gezweifelt. Ich habe mich mit fünf Jahren dazu entschieden.

Mit fünf Jahren schon? …

Ich bin als Junge auch mit dieser Frage schwanger gegangen. Der Pfarrer sagte mir damals, dass man so etwas wie ein Berufungserlebnis haben würde, wenn Gott einen rufen würde. Ich habe immer auf die Stimme Gottes gewartet, aber die kam nicht. Wie war das bei Dir?

Die Idee, Priester zu werden, ist einfach so gekommen. Ich hatte nie eine andere Vorstellung. 
 

Ich habe später nie …

verstehen können, dass die jungen Männer auf ein Leben mit Frauen verzichten wollten. Mit fünf Jahren ist das kein Thema, aber mit fünfzehn stellt sich diese Frage recht massiv, kann ich mir vorstellen. Ist da keine Auseinandersetzung mit dem Zölibat und den damit verbundenen Fragen gewesen?

Mit fünf Jahren gibt es das nicht. 

Aber später, mit 15 etwa …

Es ist ja eine Entscheidung nicht nur für eine bestimmte Lebensform, sondern auch gegen eine andere Lebensform? 

Auf diese Art kann man das nicht abhandeln. Es geht nicht um diese Dinge, sondern um einen Gottesbezug. Diesem Bezug zu Gott ist das untergeordnet. Man muss das auf der Ebene der Beziehung zu Gott sehen. Es hat mit Gott zu tun, natürlich mit Gott in meiner damaligen Vorstellung.
 

War dann später, …

als Du Dich in den sechziger Jahren mit Austrittsgedanken trugst, das Thema Zölibat ein Faktor? Du hast ja dann auch geheiratet.

Die Entscheidung, den Priesterberuf aufzugeben, hatte mit einer möglichen Ehe nichts zu tun. Auch diese Entscheidung war der Beziehung zu Gott untergeordnet. Ich habe plötzlich gesehen, dass vieles von dem, was mir am Christentum wichtig war, durch anderes in der Kirche verdeckt wird. Plötzlich sollte ich mich auf etwas einlassen, das meiner Gottesvorstellung widersprach. Mir war auf einmal klar, dass ich das nicht mehr mitmachen konnte. Nicht weil ich ungläubig geworden war, sondern eher weil ich noch gläubig war. 

Der Glaube war …

Dir zu kostbar?

Er war mir zu kostbar. Deshalb musste ich aus dem Orden austreten. Das andere kam später hinzu.

Bert Hellinger als Lehrer in Südafrika

Wann bist Du …

nach Südafrika gegangen?

Das war 1953, nehme ich an. Ich habe in Südafrika zunächst noch ein weiteres Studium gemacht, für den Lehrberuf. Danach bin ich an eine Schule gekommen, um dort zu unterrichten. Während ich in der Schule unterrichtet habe, habe ich mir in einem Fernstudium das University Education Diploma in Erziehungswissenschaften erworben. Damit erhielt ich die Lehrberechtigung für den Unterricht an höheren Schulen. Danach musste ich zusätzlich noch die Leitung dieser Schule übernehmen.
Aber ich hatte mich durch die Übernahme dieses Amtes und das zusätzliche Fernstudium überarbeitet. Ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Das war sozusagen eine heilsame Krankheit, weil ich dadurch aus der Schule herauskam.

Hattest Du eine Erschöpfungsdepression, …

oder wie würdest Du das bezeichnen?

Ich konnte nicht mehr schlafen, das war eine schlimme Zeit. Ich war mit meinen Kräften am Ende. Ich bin dann auf eine Missionsstation gegangen zu einem holländischen Mitbruder und bin einfach mit ihm herum gewandert, wenn er seine Arbeit tat. Dadurch habe ich mich innerhalb von zwei Monaten wieder langsam erholt. Ich kam dann auf eine Missionsstation und war in der Seelsorge tätig. Das war für mich viel zufriedenstellender. 

Und nach der Missionsstation, …

kam dann die Rückkehr nach Deutschland?

Noch lange nicht. Es vergingen noch mehr als zehn Jahre. In dieser Zeit wurde ich auch Leiter des St. Francis College in Mariannhill. Da war eine Eliteschule. Zu dieser Zeit kam ein hoher Prozentsatz der eingeborenen Universitätsstudenten aus dieser einen Schule, sie hatte einen hervorragenden Ruf in ganz Südafrika. Die Schule war zugleich auch ein Internat. Alle Schüler wohnten auch im Internat. Das war eine schöne und fruchtbare Zeit für mich. Es gab eine ganz enge Zusammenarbeit zwischen mir als Leiter und einem anderen Priester, der mir zur Seite stand. Alleine kann man solch eine große Schule und ein solches Internat überhaupt nicht leiten.

Im Grunde genommen hatte die Schule zwei Internate, eines für die Mädchen und eines für die Jungen. Für die Mädchen waren Schwestern verantwortlich, für die Jungen wir beiden Priester. Wir haben die Schule und das Internat im Sinne einer weit gehenden Selbstverwaltung organisiert. Jede Klasse hat einen Sprecher gewählt, zusätzlich wählten alle zusammen von der Abschlussklasse fünf Vertreter in den Schulverwaltungsrat, das Schülerparlament. Dieses Gremium hat die meisten Fragen unter sich geregelt. Wir waren überrascht, wie gut das funktionierte. Das war eine wichtige Erfahrung für mich. 

Wie lange warst …

Du insgesamt in Südafrika?

Sechzehn Jahre.

Und was waren …

die Gründe, dass Du da weggingst? Hing es schon damit zusammen, dass Du aus dem Priesterberuf ausscheiden wolltest? 

Die Gründe lagen woanders. Ich vertrat eine etwas fortschrittliche, eine moderne Theologie, dafür war ich bekannt. Auf einmal wurde ich verdächtigt, dass ich im Religionsunterricht in der Schule Ansichten vertrete, die sich mit der Lehre der Kirche nicht vereinbaren lassen.

Zu der Zeit sollte ich meinen Bischof bei der Bischofskonferenz vertreten. Der Bischof hat mich zu sich gerufen, um mit mir zu besprechen, was dort seine Anliegen waren. Nach dem Gespräch hat er einen Brief herausgezogen, in dem mich jemand der Häresie beschuldigte. Der Bischof bat mich, Stellung dazu zu nehmen  und riet mir, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein. Ich sagte ihm: „Wenn ich in dieser Hinsicht kein Vertrauen genieße, kann ich Sie nicht bei der Bischofskonferenz vertreten. Und ich kann auch nicht länger meine Ämter wahrnehmen.“  Ich habe alle meine Ämter niedergelegt, ich war da ganz radikal. Danach war klar, dass ich nach Deutschland zurückkehren würde.
 

Menschen kommen ja oft …

an einen Scheideweg und bleiben davor stehen und bewegen sich nicht. Aber Du bist da immer mit großer Furchtlosigkeit weiter gegangen. Oder war es fast eine Ausweglosigkeit? Um für Dich weiter bestehen zu können, musstest Du diesen Schritt tun?

Immer wenn ich merke, es geht irgendwo nicht weiter, gehe ich einen anderen Weg und mache etwas Neues. 

Wie ging das dann weiter? 

Inzwischen war in Deutschland bekannt geworden, dass ich meine Ämter in Südafrika niedergelegt hatte. Der Orden hat mich gleich von der Diözese dort zurückgefordert, denn ich sollte schon lange in Deutschland die Rektorenstelle des Priesterseminars der Mariannhiller in Würzburg übernehmen.  

Aber vorher war noch etwas Wichtiges in Südafrika passiert, nämlich der Kontakt mit der Gruppendynamik. Auf einer Konferenz traf ich einen Benediktiner, der mir sagte: „Da gibt es etwas, das ist hochinteressant, das musst Du mal mitmachen.“ Er verschaffte mir Kontakt zu einer Gruppe von anglikanischen Priestern, die die Gruppendynamik in Südafrika eingeführt hatten. Die haben ökumenische und gemischtrassische Kurse angeboten, waren also in dieser Hinsicht sehr fortschrittlich. 
Ich bin zu ihnen in ein gruppendynamisches Training gegangen. In diesem ersten Kurs hatte ich ein Schlüsselerlebnis. Der Leiter hat in der Gruppe nur allgemein gefragt: „Was ist für Dich wichtiger, ich sag es mal auf englisch „ideals or people“, also Idealvorstellungen oder Menschen? Was opferst Du wem? Die Menschen einer Idealvorstellung oder die Idealvorstellung den Menschen. Das hat mich zutiefst betroffen, ich konnte in der Nacht danach nicht schlafen. Es war ein Wendepunkt in meinem Leben.  

Dir wurde klar, …

dass es um die Menschen gehen musste?

Plötzlich waren für mich die Menschen im Vordergrund. Ich habe noch verschiedene andere Trainings bei ihnen gemacht und habe die Gruppendynamik auch in der Schule, an der ich war, angewandt.
Mit diesem Wissen und Können kam ich nach Deutschland zurück. Als ich schon zwei Monate hier war, hat Professor Däumling aus Bonn (einer der Begründer der Gruppendynamik in Deutschland, H.B.), in Würzburg einen Vortrag über Gruppendynamik gehalten. Da bin ich natürlich hingegangen und habe ihm erzählt, dass ich die Gruppendynamik aus meiner Arbeit in Südafrika kenne. In Deutschland war die Gruppendynamik noch neu, während sie in Südafrika schon etabliert war. Herr Däumling hat mich dann als Co-Trainer zu einem Training nach Bonn eingeladen. Durch diese Einladung bekam ich in Deutschland einen Platz in der Szene der Gruppendynamik, und zwar als einer, der schon etwas konnte.  

Das war dann aber …

schon Anfang der Siebziger? 

Das war 1970. Ende 1969 war ich aus Südafrika zurückgekommen. Mit der Gruppendynamik hatte ich in Deutschland gleich ein neues Standbein. Ich habe die gruppendynamische Arbeit auch sofort in diesem Priesterseminar angewandt. Ich habe auch Kurse in Gruppendynamik angeboten und wurde als Trainer für Gruppendynamik bekannt. Aber ich habe gewusst, dass mir noch vieles fehlt. Deshalb habe ich gleich nach meiner Rückkehr in Würzburg eine Psychoanalyse begonnen.

Inzwischen hatte ich mich innerlich von meinem Orden langsam entfremdet. Immer öfter musste ich erleben, dass bei wichtigen Entscheidungen Selbsterhaltungsfragen wichtiger waren als die religiösen und die menschlichen Fragen. 

Mit diesem inneren Konflikt bin ich zum ersten gruppendynamischen Kongress in Köln gegangen und lernte dort Ruth Cohn kennen. Der Kongress fand zum Ende der 68er Zeit statt, der Zeit der Hippies und radikalen Studenten. Sie drangen auch in diesen Kongress ein und haben die Veranstaltungen gestört. Ruth Cohn hat mit unglaublichem Geschick den Kongress gerettet, indem sie die Studenten für sich gewonnen hat. Das hat mich sehr beeindruckt. Kurz darauf ich bin zu ihr in einen Kurs gegangen. Es war der erste Kurs, den sie in Deutschland angeboten hat. 

In dem Kurs hat sie etwas über Gestalttherapie erzählt. Sie hatte Fritz Perls gut gekannt und war von daher mit der Gestalttherapie vertraut. In Deutschland war die Gestalttherapie noch völlig unbekannt. Sie hat in der Gruppe eine Demonstration der Gestalttherapie angeboten, und fragte, wer sich als erster meldet, sich auf den so genannten heißen Stuhl zu setzen. Ich habe mich gemeldet. Während sie mit mir arbeitete, habe ich in die Ferne geschaut. Auf einmal sah ich, dass ich eine andere Zukunft hatte. Nicht mehr im Orden. Der Schlüsselsatz am Ende dieser Sitzung war: „Ich gehe.“ Ich musste dann reihum vor jeden Teilnehmer stellen und sagen: „Ich gehe“. Das war ein unglaubliches Erlebnis, ein Schlüsselerlebnis 

Für mich war nun klar, dass mein Verbleiben im Orden nur noch eine Frage der Zeit war. Ich bin aber erst noch nach Würzburg zurückgegangen. Zu gleichen Zeit habe ich mich entschlossen, eine Lehranalyse zu machen. Ein Freund von mir, Professor Hermann Stenger, auch ein Gruppendynamiker, hat mir in Wien einen Platz für eine Lehranalyse besorgt. Ich wusste zwar, dass ich den Orden verlasse werde und habe auf diese Weise bereits vorgesorgt. Aber die Zeit dafür war noch nicht reif, ich wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Bei einem gruppendynamisches Training, das ich in Rom angeboten habe, hat es während eines Gespräches mit einem Amerikaner plötzlich „Klick“ gemacht, Ich wusste: „Jetzt war die Zeit gekommen.“ Wenige Tage später habe ich meine Entscheidung meinen Ordensoberen in Rom mitgeteilt. Danach ging alles Notwendige ohne Schwierigkeiten über die Bühne. Ich stand voll hinter diesem Entschluss. Meine Ordensoberen merkten das und haben keinen Versuch unternommen, mich umzustimmen. 

Ich hatte für das Leben außerhalb des Ordens vorgesorgt. Ich stand auf eigenen Füßen denn ich war ein angesehener Gruppendynamiker. Ich zog sofort nach Wien und begann die Lehranalyse.

Die Einflüsse verschiedener therapeutische Schulen auf Bert Hellinger

Und dann kam relativ

schnell der Arthur Janov, die Primärtherapie?

Das hatte noch ein Vorspiel. Ich hatte alle Prüfungen gemacht für den Abschluss als Psychoanalytiker und habe mich dem psychoanalytischen Arbeitskreis in Salzburg angeschlossen. Ich wurde gebeten, dort einen Vortrag zu halten. Mein Thema war das Buch von Janov: „Der Urschrei.“  Das kam nicht gut an. Man hat mich aus dem Arbeitskreis ausgeschlossen und den Abschluss verweigert. Ich hätte noch zwanzig Stunden Analyse machen müssen, das wäre alles gewesen. Das hatte ich noch als Auflage aus Wien mitgebracht.

Ich bin dann für neun Monate zu Janov und einem seiner führenden Schüler in die USA gegangen und habe Primärtherapie gemacht. Für mich war das eine große Erfahrung. 

Das waren ja doch …

dann auch sehr negative Erfahrungen? So etwas wie ein Machtmissbrauch?

Es hat mich betroffen gemacht. Aber auf der anderen Seite bekommst du natürlich in einem solchen Augenblick eine unglaubliche Freiheit. 

Dass man plötzlich …

in eine neue Richtung gehen darf? Den Regularien und Ritualen entfliehen kann, die eine therapeutische Schule mit sich bringt?

Ja. Man hat auch keine inneren Verpflichtungen. Später habe noch einen zweiten Versuch gemacht. Ich wollte zu den Transaktionsanalytikern gehören. Die haben mich auch abgelehnt.  
 

Warum? 

Man sagte mir, ich hätte nicht die normale Ausbildung durchlaufen, obwohl Rüdiger Rogoll mein Sponsor und ein abgesehener Lehrer der Transaktionsanalyse war. Das war mein letzter Versuch, irgendwo dazugehören zu wollen. Es war schmerzhaft, aber heilsam, und vor allen Dingen unglaublich befreiend.

Das Merkwürdige war, dass sich später das Blatt noch einmal gewendet hat. Ich hatte durch die Skriptanalyse, die ich ja viele Jahre angeboten habe, einen gewissen Ruf. Der Münchener Arbeitskreis für Psychoanalyse wollte, dass ich für ihre Ausbildungskandidaten Skriptanalyse anbiete, weil die in zwei anderen Verfahren noch etwas hinzulernen müssen. Dieser Arbeitskreis hat mich dann als auch Psychoanalytiker anerkannt. Ich habe auch eine Approbation als Analytiker von der Bayrischen Ärztekammer bekommen.

Nach dem Kapitel …

mit der Psychoanalyse kam ja dann wohl die Familientherapie? Wie ging es mit dem beruflichen Lernen dann weiter?

Wir beide haben ja zusammen in Snowmass in den USA die Familientherapie angefangen. Dann kamen noch die Hypnotherapie und das NLP dazu. Diese weiteren Fortbildungen sind eng mit Dir verbunden, weil Du ja später bedeutende Hypnotherapeuten und NLP-Therapeuten aus den USA nach Deutschland geholt hast. Das, was mit der Erickson’schen Arbeit und dem NLP auftauchte, habe ich sofort aufgegriffen und integriert. Das waren und sind für mich wertvolle Erfahrungen. Die Fortbildung in Snowmass in Familientherapie mit Ruth McClendon und Les Kadis und den Reddingtons, das waren schöne und fruchtbare Zeiten. 

Wenn Du zurückblickst, …

welche Menschen, die Du im Bereich der Psychotherapie getroffen hast, haben Dich am meisten beeindruckt? 

Ruth Cohn gewiss, dann in Snowmass Ruth McClendon und Les Kadis. Von den Hypnotherapeuten waren Jeff Zeig, Stephen Lankton und auch Stephan Gilligan wichtig für mich. Von der Transaktionsanalyse war es Fanita English, vorher auch Hilarion Petzold. Und natürlich am Anfang die Gruppendynamiker in Südafrika, von denen ich schon gesprochen habe. Im Hinblick auf das Familien-Stellen war auch Thea Schönfelder wichtig. Bei ihr habe ich meine erste Erfahrung als Stellvertreter gemacht. 
 

Erneuter Aufbruch Ende der Achtziger: Bert Hellinger schreibt Bücher und es gibt die ersten Großveranstaltungen

Ende der Achtziger gab es …

eine Zeit, in der die Leute in Deinen Kursen saßen und sagten: „Bert, schreibe doch einmal ein Buch.“ Es wurden Skripten herum gereicht mit Zitaten von dem, was man in Kursen aufgeschnappt hatte. Einzelne hatten das nachher zusammengetragen. Aus dem, was Du entwickelt hattest, wurde plötzlich eine riesige Bewegung. 

Aber ich hatte ja sozusagen schon abgeschlossen. 

Du warst auf dem Rückzug …

Ich hatte den Eindruck, Du gehst in Ainring in Dein geruhsames Rentnerleben. Plötzlich erlebte man Dich so, als würdest Du noch einmal durchstarten, und das hast Du ja auch gemacht.

Erst mal war wichtig, dass Gunthard Weber das Buch „Zweierlei Glück“ herausgebracht hat. Das hat das Feld in die Weite geöffnet. Es war für mich damals noch nicht die Zeit, das selbst zu tun. Dass Gunthard das gemacht hat, war eine große Leistung. Dann war auf einmal war klar: „Jetzt mach ich auch etwas.“ Ich begann, das Buch „Ordnungen der Liebe“ zu schreiben. Weißt Du, wie ich das gemacht habe? 
 

Wir hatten Dir ja …

die Videos von dem Kurs in Köln zugeschickt, den Du für mich 1992 in der Universität in Köln gemacht hast. Wir haben den ganzen Kurs auf Band aufgenommen, weil wir uns Deine Arbeit auch nachher noch einmal anschauen wollten. 

Ich habe mich hingesetzt und habe die Videos transkribiert, was sehr schwer war, denn der Ton war sehr schlecht. Was dabei herauskam, wurde der erste Teil des Buches „Ordnungen der Liebe“. 

Etwas später wurde ich zu einem Kurs für Familientherapeuten eingeladen, der auch aufgezeichnet wurde. Dieses Video wurde zur Grundlage für den zweiten Teil von „Ordnungen der Liebe.“ 
Kurz danach war in Garmisch ein Kongress, den Wolf Büntig organisiert hatte. Ich hielt dort den Vortrag „Vom Himmel der krank macht, und der Erde, die heilt“. Auf diesem Kongress habe ich auch einen Kurs angeboten und gesagt: „Ich nehme bis zu 35 Teilnehmer.“ Es haben sich aber 350 gemeldet. Was sollte ich nun machen? Ich habe gesagt: „Dann mache ich den Kurs mit allen.“ Zuvor kam eine Frau auf mich zu und fragte: „Hast Du was dagegen, wenn ich diesen Kurs aufnehme?“  Dieses Video wurde zur Grundlage für den dritten Teil von „Ordnungen der Liebe,“  Das war zugleich auch der Durchbruch zu den Großveranstaltungen. Alles hat sich wie zufällig ergeben.
 

Es war nicht etwas, was …

Du geplant hast? 

Es hat sich ereignet und war plötzlich eine Herausforderung.

Die Kritiker und ihre Bindung an die Gruppe

Darf ich noch einmal …

zur Zugehörigkeit zu Gruppen gehen? Die Psychotherapeuten, die Dich angreifen, vor allem die Systemiker, verteidigen ihr Feld und sind, wenn sie Dich angreifen, mit ihrem Gewissen völlig in Einklang. In deinem Falle war es ja so, dass Du das Feld des Ordens und der Kirche verlassen konntest. Statt in der Gemeinschaft des Ordens und der Kirche zu bleiben, bist aber weiter gegangen, hast Dich davon nicht binden lassen. Was machte Dich so unabhängig? Ist das so etwas wie ein Bedürfnis, einer inneren Bewegung zu folgen?

Das ist vielschichtiger. Ich hatte den Vorteil, dass ich auch andere Berufe erlernt habe. In Südafrika habe ich das Lehrerexamen gemacht und hatte damit schon dort eine Alternative. Ich spürte, dass ich dadurch eine ganz andere Unabhängigkeit hatte, und die anderen spürten das auch. Sie konnten mich deshalb nicht einschüchtern. Diese Alternative war etwas sehr Wertvolles für mich.

Jetzt stelle dir einmal die vor, die nur einen Beruf gelernt haben, oder die, die nach zehn Jahren des Lernens endlich Psychoanalytiker geworden sind. Sie merken vielleicht später, dass es noch etwas anderes gibt, können aber aus dem, was sie für sich entwickelt haben, nicht mehr aussteigen. Sie sind dann in einer ähnlichen Situation wie viele Priester. Sie haben keine Alternative, weil in ihrer Gruppe eine Alternative nicht geduldet wird. Sobald sie etwas anderes anstreben, werden sie aus dieser Gruppe ausgeschlossen. Sie vertreten dann die Positionen ihrer Gruppe nach außen auch im Sinne eines Überlebenskampfes. Sehr viel Kritik am Familien-Stellen muss unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden. Mit dem Familien-Stellen selbst hat ihre Kritik oft wenig zu tun, Das Familien-Stellen wird auch gar nicht näher betrachtet oder überprüft. Man wehrt es sofort ab, weil man instinktiv spürt, dass es für die eigene Gruppe und ihr Überleben eine Gefahr sein kann.  
 

Viele erwarten von Dir, …

dass Du zu solchen Kritiken Stellung beziehst. Ich verstehe das so, dass manche von Dir erwarten, Du solltest anders sein.

Ja, genau. Ich entziehe mich grundsätzlich, wenn jemand über mich Macht gewinnen will. Man wirft mir vor, dass ich keine Kritik annehme. Kritik nehme ich schon an, aber keinen Machtanspruch über mich. Hinter vieler Kritik verbirgt sich die Forderung: „Du musst deine Position verlassen und mir folgen. Warum machst Du es nicht so, wie ich das will?“

Wenn es Kritik ist im Sinne von: Schauen wir uns das einmal gemeinsam an, was da wirkt und was hier hilfreich ist - dann spricht der andere von einer Erfahrung und sucht eine Erfahrung, und ich spreche von einer Erfahrung und suche eine Erfahrung. Durch die unterschiedliche Erfahrung bereichern wir uns gegenseitig. Jeder hat trotz Kritik - was hier eigentlich nur heißt, trotz anderer Erfahrung – dem anderen etwas gegeben. Das ist für mich wertvoller Austausch, an dem ich wachsen und mit weiterentwickeln kann. Wenn aber jemand: „Du musst mir zuhören und meinen Argumenten folgen, sie sind besser und richtiger als deine“ - was will er dann? Er will Macht über mich gewinnen. Dem entziehe ich mich.

Mich erinnert dieses Sich-Entziehen …

sehr an Deinen Vater. Wenn ich mir vorstelle, wie er dem Parteieintritt entgangen ist, dann muss das etwas Ähnliches gewesen sein. Er hat einfach nicht zur Verfügung gestanden, hat sich zurückgezogen. 

Das stimmt, so habe ich das noch nicht gesehen. Vielleicht habe ich es von ihm gelernt. Ich kann mich da gut mit ihm verbunden fühlen.

Der Glauben von Bert Hellinger und religiöse Bewegung

Wie würdest du deinen …

Glauben beschreiben?

Inzwischen habe ich keinen Glauben mehr. Glauben heißt ja auf der einen Seite, dass ich einer Vorstellung von Gott folge oder dem, was über Gott oder als Offenbarung von oder über Gott gesagt wird. Dass ich das für wahr halte und mein Leben entsprechend einrichte. Es gibt aber auch ohne einen Glauben dieser Art eine seelische Bewegung auf etwas Größeres hin. Diese Bewegung ist die eigentlich wahre Religiosität, die Bewegung auf etwas verborgenes Größeres hin. Diese Bewegung findet man sowohl bei vielen Gläubigen, wo immer sie sind, als auch bei vielen anderen, die keinen festen Glauben haben. Sie gehen in diese Bewegung auf etwas hin und blicken in ihr über das Enge, das Augenscheinliche hinaus. Für viele Menschen ist das Religiöse an bestimmte Gottesbilder gebunden. Es existiert aber auch losgelöst von solchen Bildern. Die Bewegung auf etwas Größeres ist in allen Religionen die gleiche, unabhängig von bestimmten Gottesbildern. Daher gibt es sie auch außerhalb der Religionen. 

Die Frage ist, ob die vielen Gottesbilder mit dieser religiösen Bewegung vereinbar sind, oder ob sie sich nach einiger Zeit dieser Bewegung entgegenstellen, sie vielleicht sogar ins Absurde führen.

In dem, was als religiös verkündet wird, gibt es für mich eine Menge von Widersprüchen. Ich bin dem nachgegangen. Wenn man den Satz Ernst nimmt: „Alles ist bewegt“ – von woher ist es denn bewegt? Von etwas außerhalb von uns. Diese Bewegung ist schöpferisch, weil sie etwas bewirkt. Es muss aber nach meiner Vorstellung eine Urbewegung geben oder eine Urkraft, von der jede Bewegung herkommt. Ob man diese Urkraft Gott nennen darf, weiß ich nicht. Da ist vielleicht noch etwas dazwischen, aber das spielt für mich keine Rolle. Wichtig ist nur, dass jede Bewegung, wie immer sie ist, als von etwas außer ihr gesteuert ist, von etwas Schöpferischem. Dieses Schöpferische ist der Bewegung und ihrer Richtung zugewandt, muss es ja sein, denn es kann nicht eine Bewegung sein, die zur gleichen Zeit gegen sich selbst gerichtet ist.

Wenn man das Ernst nimmt, ist alles, was geschieht, auch das so genannte Böse oder Schreckliche oder Gewalttätige, von der gleichen Ursache bewegt. Dadurch entsteht ein anderer Horizont. Die Unterscheidung von Gut und Böse ist dann nicht mehr aufrecht zu erhalten. Fragen wie: „Wie kann Gott das zulassen?“ werden hier irrelevant. Für mich geht es darum, dieser wahrnehmbaren Bewegung zuzustimmen, wie sie ist. Das ist für mich religiös. In diesem Sinne bin ich sehr religiös. Diese Zustimmung braucht kein Bild und keinen Glauben. Jeder kann das in seiner Seele unmittelbar erfahren.

Gut und Böse, Hitler

Die Gegensatzpaare „Gut …

und Böse“ sind irgendwann als Orientierung entstanden. In unserem Denken sind sie ja feste Größen. 

Ich muss mich dem Guten und dem Bösen mit der gleichen Haltung stellen, denn in beiden ist die gleiche Kraft am Werk. Wenn ich das mache, gibt es diesen Unterschied nicht mehr. Wenn man das nicht nur im Kopf, sondern auch in der Praxis durchhalten kann, stellt das eine unglaubliche Reinigung und Leistung zugleich dar.  

Aus der praktischen …

Anwendung entsteht ja auch die Kontroverse. Solange Du darüber philosophieren würdest, wäre das egal. Es ist ja auch keine neue Erkenntnis, dass Gut und Böse im letzten Grund in einer Einheit münden. Aber wenn man das auf irgendwelche Personen in der Praxis anwendet, z.B. bei einem Serienmörder, SS-Offizier, oder einem Hitler, sträubt sich alles dagegen.  

Hitler ist ein Test. Viele, die gegen ihn sind, schauen auf Hitler und die eigene Seele folgt häufig sehr geheim dem Abgelehnten. Ich schaue hinter ihn und über ihn hinaus und sehe, dass auch er mit einem unausweichlichen Schicksal konfrontiert ist. Dies ernst zu nehmen, das ist für mich Religion.  

Kritik versus Dialog

Gibt es eine Parallele …

zwischen dem Zurückziehen, wenn alle Kritikerrohre auf Dich gerichtet sind, und dem Zurückziehen vor den Ansprüchen der Nationalsozialisten in Deiner Jugend und später den Ansprüchen des Ordens oder der therapeutischen Schulen?

Es gibt da gewisse Ähnlichkeiten. Aber weil ich sehe, wie wichtig für eine Gruppe das Feld ist, in der sie sich bewegt, kann ich andere, die in einem anderen Feld sind, nicht verurteilen oder sagen „Die sind schlechter oder besser.“ Sie sind nur in einem anderen Feld. Ich sehe das mittlerweile wertneutral. 

Manchmal trifft es Dich …

auch, wenn die Menschen Dich so angehen. Oder bist Du so weit weg davon? Es sind ja zum Teil auch Menschen, die Dir persönlich nahe gekommen sind, die sehr von Dir und dem Familien-Stellen profitiert haben, und die sich heute gegen Dich stellen.

Ich sehe sie auch als Teil eines Feldes und erlebe es nicht als persönlichen Angriff. Ich kann das so lassen. 

Überwiegend oder immer?

Gestatte mir doch, auch hier menschlich zu bleiben. Dieses Vollkommene wäre für mich schrecklich. Aber mich dem auf diese gelassene Weise zu stellen, ist eine fortwährende Leistung, eine fortwährende Herausforderung. Ich muss mich immer wieder neu darauf einstellen. Das schließt aber nicht aus, dass ich mich einem Konflikt auch stelle. 

Das heißt ja auch, …

den Gegner zu achten und ihn Ernst zu nehmen.

Das gehört dazu. Der Krieg ist der Vater aller Dinge. Er ist auch der Vater des Friedens. 

Kann Hellinger auch …

ein Krieger sein?

Ich habe das in meinem Leben schon ein paar Mal gezeigt und ich bleibe auf diesem Wege.