Viele halten das Gewissen für die höchste und letzte Instanz, nach der wir uns in jeder Lebenslage richten müssen. Das hängt damit zusammen, dass unser Überleben mit dem Gehorsam gegenüber dem Gewissen zusammenhängt.

  1. Jede Familie hat ein eigenes Gewissen. Mit Hilfe des Gewissens nehmen wir unmittelbar wahr, was wir tun oder lassen müssen, um zu dieser Familie gehören zu dürfen. Wenn wir uns nach  den Anweisungen dieses Gewissens richten, haben wir ein gutes Gewissen. Das heißt: Wir sind uns sicher, dazugehören zu dürfen.
     
  2. Wenn wir gegen die Anweisungen unseres Gewissens verstoßen, bekommen wir ein schlechtes Gewissen. Wir fühlen uns schuldig. Was ist das genaue Gefühl, wenn wir ein schlechtes Gewissen haben und uns schuldig fühlen? Wir haben Angst, dass wir das Recht auf Zugehörigkeit zu unserer Familie gefährden oder verloren haben.
     
  3. Das schlechte Gewissen treibt uns an, unser Verhalten so zu ändern, dass wir wieder ein gutes Gewissen bekommen, dass wir uns also des Rechtes auf Zugehörigkeit zu unserer Gruppe wieder sicher sind.

Der Hauptirrtum beim guten und schlechten Gewissen besteht darin, dass wir meinen, unser Gewissen habe allgemeine Gültigkeit, also nicht nur für uns, sondern für alle Menschen. Deshalb betrachten viele ihr Gewissen als die Stimme Gottes in ihrer Seele.

Wenn wir bedenken, dass Menschen, die aus einer anderen Familie kommen, die gleiche Vorstellung haben, obwohl sich die Vorschriften ihres Gewissens weitgehend von den Anweisungen unseres Gewissens unterscheiden, verstehen wir, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn zwei Menschen sich auf ihr Gewissen berufen. Sie wollen den anderen zwingen, dass er ihrem Gewissen folgt statt seinem eigenen.

Das Gewissen in der Familie

Jemand wird aus seiner Familie ausgeschlossen, wenn er den Maßstäben ihres Gewissens widerspricht. Zum Beispiel, wenn er sich einer Gruppe anschließt, die ein anderes Gewissen hat. Der Ausschluss wird mit dem guten Gewissen seiner Familie gerechtfertigt und von ihm verlangt. Das geht manchmal soweit, dass dieses Mitglied umgebracht wird. Oder eine Frau verheimlicht ein Kind und gibt es weg, weil es in ihrer Familie als Schande gilt, ein uneheliches Kind zu haben. Oder sie treibt aus Angst vor dem eigenen Ausschluss dieses Kind ab.

Hier sehen wir, wie lebensfeindlich das gute Gewissen sein kann. Umgekehrt, wenn eine Frau unter diesen Umständen ein Kind weggibt, oder wenn sie ein Kind abtreibt, will sie sich im Sinne des Ausgleichs von Geben und Nehmen von ihren Schuldgefühlen befreien, indem sie dafür sühnt. Das heißt, sie tut sich etwas an. Sie wird vielleicht krank und will sterben.

Es muss jedoch nicht jeder selbst sühnen. Es genügt, wenn ein anderer stellvertretend für ihn sühnt. Auch das ist eine Gewissensbewegung. Der Ausgleich braucht nicht persönlich zu sein.

Wer will diesen Ausgleich? Der "Gott des Gewissens". Alle Opfer, die ihm dargebracht werden, vor allem alle Kinderopfer, dienen seiner Versöhnung. Das heißt, sie dienen dem Ausgleich für einen Ausschluss. Wer bereit ist, die Sühne zu übernehmen, bringt denen, für die er sich opfert, Segen.

Das ist eine Verschiebung des Ausgleichs im Sinne von: Erst das Opfer und dann der Segen. Diese Gewissensbewegung wirkt hinter den Versuchen von Kindern, ihre Eltern zu retten, indem sie an deren Stelle krank werden oder sterben wollen. Zugleich ist diese Gewissensbewegung die Grundbewegung hinter jeder Tragödie. Allerdings verbindet sie sich hier mit einer Verletzung der Rangordnung, in der sich ein Nachgeordneter an die Stelle eines ihm Vorgeordneten setzt, ohne dass ihm dieser Verstoß gegen die Rangordnung bewusst wird.

Aus welchem Grund? Das Gewissen sichert ihm zu, dass er sich dadurch ein größeres Recht auf die Zugehörigkeit zu seiner Familie verdient.

Das Gewissen in der Paarbeziehung

Welche Unordnung das Gewissen in einer Paarbeziehung stiften kann, sehen wir daran, dass jeder Partner versucht, den anderen zu seinem Gewissen zu bekehren. Er misst das Verhalten des anderen nach Maßgabe seines Gewissens und beurteilt es als gut oder schlecht. Das gilt für beide Partner. Es vermindert die gegenseitigen Achtung und Liebe und führt in vielen Beziehungen zu endlosen Streitereien. Vor allem, wenn es darum geht, wie die Kinder erzogen werden sollen.

Das Ja in der Paarbeziehung

Wie können wir uns aus der Unordnung des Gewissens in unserer Paarbeziehung befreien? Indem wir den Partner und seine Familie und sein Gewissen als dem unseren gleichwertig anerkennen. Wir sagen ihm also: „Ich liebe dich, so wie du bist, genau wie du bist. Ich liebe deine Mutter, wie sie ist, genau wie sie ist. Ich liebe deinen Vater, wie er ist, genau wie er ist. Ich liebe deine Familie, wie sie ist, als der meinen ebenbürtig.“ Damit haben wir einen Schritt über die Enge unseres Gewissens getan, einen Schritt der Liebe.

Das Gleiche gelingt uns mit unseren Kindern. Hier können wir vor allem überprüfen, ob uns dieser Schritt gelang. Zum Beispiel wenn wir einem Kind innerlich und sogar offen sagen: „In dir liebe ich deinen Vater, wie er ist, und ich freue mich, wenn du einmal wirst wie dein Vater.“ Oder: „In dir liebe ich deine Mutter, wie sie ist, und ich freue mich, wenn du einmal wirst wie deine Mutter.“ Was geschieht dann mit dem Kind? Es wird glücklich. Denn es liebt beide Eltern, wie sie sind. Diese Sätze haben noch eine andere Wirkung. Das Kind wird für seinen eigenen Weg frei.

Gewissen und Liebe

Wer immer seinem Gewissen folgt, lehnt andere ab. Um zu seiner Familie gehören zu dürfen, muss er andere, die anders sind, weil sie ein anderes Gewissen haben, für minder erachten und für weniger gut, und sich für besser als sie halten. Damit steht das Gewissen der Achtung und Liebe für andere, die anders sind, entgegen. Alle Unterscheidungen von Gut und Böse und von Auserwählt oder Verworfen, oder von Himmel und Hölle, kommen aus dem Gewissen. 

Das hängt damit zusammen, dass wir unseren Gott weitgehend nach den Maßstäben unseres Gewissens erschaffen. Dass er also nur die liebt, die unser Gewissen liebt, und jene von seiner Liebe ausschließt, die unser Gewissen von unserer Liebe ausschließt. Selbstverständlich haben auch die anderen, die ein anderes Gewissen haben, einen Gott, der ihrem Gewissen folgt. Auch sie schließen andere unter Berufung auf ihr Gewissen und auf ihren Gott aus. Zum Beispiel uns. So wird das gute Gewissen der einen und das gute Gewissen der anderen zum Spaltpilz, der Menschen und Völker und Religionen voneinander trennt. Ihr gutes Gewissen bringt sie gegeneinander auf. Es rechtfertigt die schlimmsten Grausamkeiten gegen andere, zum Beispiel in den Religionskriegen.